LESEPROBEN
1. Kapitel
Die Sirene plärrt ihren schwirrenden, auf und nieder schmetternden Ton durch das Tal. Dichter, weißer Rauch verhüllt
jeden Anhaltspunkt, jede Ecke und Kante, jeden Durchgang, jedes Fensterbrett und auch den Handlauf der Stiege der
kleinen Schule.
Er beißt zwar nicht in den Augen und brennt nicht in den Lungen, wie der Rauch eines richtigen Brandes. Unangenehm
ist er trotzdem. Diese Simulation gehört zu der Feuerprobe, die mein Vater, der Feuerwehrhauptmann des Ortes
gemeinsam mit dem Direktor, den Lehrern der Schule und den Schülern abhält. Dass die Klassentüre der ersten Klasse
geöffnet wird, kann ich an den Stimmen erkennen. Frau Moser, die Klassenlehrerin hat in den letzten Tagen mit den
Erstklässlern immer wieder dafür geübt. Die Kleinen stellten sich in der Zweierreihe an und mussten sich dann so die
Hände reichen, dass eine lange Kette mit allen Kindern zustande kam. Jetzt sollen sie das im weißen, undurchsichtigen
Rauch machen und die Stiegen nach unten gehen.
Die gegenüberliegende Klasse ist auch schon abmarschbereit. Ich kann die Stimme
von Frau Auer genau erkennen. Dahinter erklingen die sonoren Worte des Schulleiters: „Na, was ist? Doris, dann Susi!
Los geht’s! Und Kinder: Leise und vorsichtig! Schritt für Schritt!“
Ich, stehe noch immer bei der Türe vor dem Lehrerzimmer, bin unsichtbar in der Unsichtbarkeit, habe den Nebel mit Hilfe
meines Vaters erzeugt und beobachte hier den weiteren Ablauf der Dinge. Ich kann mehr fühlen als erkennen,
schemenhaft erfasse ich, wie sich die Kinder langsam, Schritt für Schritt zur Treppe heran tasten, ihren
Klassenlehrerinnen nach folgen und merke, wie sich ihre zerfließenden Silhouetten bald im Weiß auflösen. Gelegentlich
dringt ein kurzer Schrei oder ein „Pass auf!“ an mein Ohr.
Als die Klasse des Schulleiters los zieht, mischt sich der Nebel mit dem Geräusch eines anhaltenden Tumults, von
gegenseitigem Anrempeln und Stoßen, vielleicht auch gelegentlichem Zwicken und sonstigen üblen Ausdrucksformen
des unleidlichen Miteinanders.
Ebenerdig gibt es hier noch eine Klasse, das sind die Großen, die im letzten Jahr die Schulküche benützen. Deshalb
liegt der Klassenraum auch direkt neben der Küche.
Diese Kinder hatten, nach Anweisung, das Schulgebäude zuerst verlassen.
Die Stimmen und Geräusche sind leise geworden, klingen jetzt von sehr fern. Vermutlich haben alle das Gebäude
verlassen, ohne, dass jemand gestürzt ist. Jetzt ist es an mir, einen Klassenraum wieder zu betreten, um ein Fenster zu
öffnen.
So hat es mein Vater angeordnet. Mit der Drehleiter soll ich, zum Gaudium der Zuseher, aus dem Gebäude gerettet
werden. Es ist sozusagen die Belohnungsshow für die Kinder, die zwar gerettet, aber ohne Mantel im Freien vor der
Schule stehen und der Dinge harren, die noch oder nicht kommen.
Ich fühle, dass es noch nicht an der Zeit ist und öffne die Türe des Lehrerzimmers.
Eigentlich ist es nur ein schmaler Raum mit Kästen an der einen und Tischen an der anderen Seite. Auf den Tischen
stehen ein Kopier- und ein Schneidegerät. Dahinter an der Wand hinter den Tischen gibt es eine Türe, unbeachtet zwar,
fast unsichtbar, aber vorhanden. Es ist eine Metalltür, mit Wandfarbe in einem beigen Farbton. Über dem Tisch steckt der
Schlüssel. Ich drehe nach rechts, die Tür springt auf. Mit Bedacht ziehe ich den Schlüssel ab und stecke ihn in meine
Hosentasche. Dann steige ich durch die kleine Tür in den nächsten Raum, ziehe die Metalltür an den Rahmen heran und
schiebe von innen den Riegel ins Schloss. Ein staubiger Dachboden nimmt mich in Empfang.
Draußen, vor dem Schulgebäude warten die Kinder auf dem kleinen Platz. Vor jeder Gruppe steht die Klassenlehrerin
wie eine Glucke. Nur bei den Viertklässlern ist niemand. Der Schulleiter Hannes Wildhas, ein passionierter Jäger, steht
drüben beim Feuerwehrhauptmann. Seine Schüler sind sich mehr oder weniger selbst überlassen. Weil ihnen fad ist,
versuchen sie sich gegenseitig auf die Zehen zu treten, was sehr bald in ein tumultartiges Geschrei ausartet, welches die
drei Lehrerinnen mit mehr oder weniger pädagogischen Geschick zu dämpfen versuchen.
Das Feuerwehrauto mit dem Hebekran steht neben der Figur des Heiligen Nepomuk. Die Männer gestikulieren.
Schulleiter Wildhas möchte unbedingt, dass der im Haus verbliebene Schüler mit dem Hebekran für die Show des Tages
gerettet wird. Weil aber das Fenster der vierten Klasse noch nicht geöffnet ist, versucht Viktor Althauser, mein Vater, die
Zeit hinaus zu zögern. Er hat keine große Lust, die mit weißem Rauch gefüllten Räume zu betreten. Er wartet, blickt auf
die Armbanduhr, zieht seine Jacke zu Recht und wird ungeduldig.
, Wo der Rotzbengel so lange bleibt?’, fragt er sich.
Es war ausgemacht, dass Daniel sofort, wenn die Kinder das Haus verlassen haben, ein Fenster der oberen Klasse
öffnet. Die Fenster sind aber alle zu.
, Vergessen wird er doch nicht haben?’, denkt Althauser weiter, nimmt den Stahlhelm vom Kopf und kratzt sich den
Schädel hinter dem rechten Ohr. Seine Haare wirken wie immer schmierig und dünn. Schließlich ruft er dem Kollegen
der Feuerwehr ein paar unverständliche Worte zu und stapft in das Schulgebäude.
„Daniel! Daniel!“, ruft er, so laut er kann.
Keine Antwort.
Althauser nimmt immer zwei Schritte und rennt durch die Nebelwand die Stiegen bis zum ersten Stockwerk hinauf.
Wieder ruft er und wieder kommt kein ersehntes Geräusch, kein „Papa, hier bin ich!“
Er öffnet die Klassentüre, tappt zum ersten Fenster, reißt beide Fensterflügel auf, dann das nächste Fenster, bis alle
geöffnet sind und der Rauch durch die herein strömende Luft dünner und dünner wird.
Althauser schreit auf den Platz hinunter, dass er Daniel noch nicht gefunden hat.
Die unten können es nicht glauben.
Althauser rennt zurück, öffnet die weiteren Klassen, ruft, öffnet Fenster, sucht den Buben in den Toiletten, kommt zurück,
weiß nicht mehr wo er suchen soll. Steif steigt er die Stufen hinunter, sucht den Sohn im Kanzleiraum, in der Schulküche,
im Umkleideraum und im Turnsaal. Zuletzt verlässt er das Gebäude durch die Veranda. Im Schulgarten, steht er
knieweich im Gras und brüllt: „Daniel, wenn ich dich erwische, aber dann kannst du etwas erleben!“
°°°
Ein Lichtstrahl fällt durch die Dachluke und lässt die Staubpartikel im Sonnenlicht tanzen. Zögernd schaue ich mich um.
Dunkle Dachbalken und Stützbalken ordnen sich im Raum. Auf der Südseite atmet der Dachraum durch eine runde
Öffnung den Duft des Waldes. In der Ecke wartet ein verstaubtes Kasperltheater mit seinen in einer Schachtel ruhenden
Puppen auf den nächsten Auftritt. Ich krame und nehme eine Puppe nach der anderen in meine Hand. Der Kasperl ist im
Spiel immer lustig, obwohl er keine Eltern hat, nur die Großmutter ist da, und der muss der Kasperl helfen. Noch nie hat
jemand erzählt, was mit Kasperls Familie passiert ist, warum er keine Eltern oder Geschwister hat. Er ist eigentlich ein
armer Kerl und dennoch lustig und fidel. Dann gibt es den Freund Seppl, ob der auch ein Waisenkind ist? Von der Gretel
weiß man ebenfalls nichts Genaues. Eine seltsame Gesellschaft. Die Prinzessin hat im Spiel zumindest einen Vater, die
Mutter gibt es nicht. Vielleicht hat die sich in den Jäger verliebt und den König verlassen? , Blödsinn‘, denke ich weiter.
,Der Jäger hat sicher nicht soviel Gold wie der König. Hat er mehr Gefühl? Dass das Krokodil keine Familie hat, passt.
Ein Krokodil genügt wahrlich und ein Räuber auch. Nur, warum der Räuber ein Räuber geworden ist, das habe ich auch
noch nicht heraus gefunden’, sinniere ich.
, Ob der Räuber schon als Räuber zur Welt gekommen ist? Als Sohn einer Räuberbraut und eines Räuberhauptmannes,
das wäre vielleicht möglich’.
Neben dem Kasperltheater liegt eine Matratze, ein paar alte Decken und sogar ein Polster. Ich wundere mich und mache
es mir gemütlich. Da entdecke ich Kleidungsstücke von einem Balken hängen. Eine Uniform hängt da, komplett: Jacke,
Hose, Ledergürtel mit Pistolentasche. Die Pistolentasche ist leer. Dafür hängt ein Stahlhelm auf dem nächsten
Kleiderbügel. Einen Ledergürtel mit der Lederscheide und einem Messer gibt es auch. Es ist zu verlockend, diese
Kleidungsstücke nicht anzuprobieren. Noch dazu, wo ich schon die passende Größe habe.
Meinen geheimen Platz habe ich aufgegeben. Ich bin bei der hinteren Dachluke über eine Metallleiter in den Schulgarten
geklettert und habe diesen beim Seitenausgang verlassen. Obwohl die Kinder aller Klassen mitsamt den Lehrerinnen,
dem Schulleiter Hannes Wildhas und den Männern der freiwilligen Ortsfeuerwehr mit meinem Vater vor dem
Schulgebäude auf die große Show warten, hat mich niemand bemerkt, als ich an ihnen vorbei schlich. Noch dazu in
dieser Aufmachung! Das ist schon seltsam! Eine komplette Uniform aus dem letzten Weltkrieg habe ich an, die Jacke ist
mit an den Schultern nebeneinander genähten silbernen Plattschnüren verziert. Echt geil!
Ich bin schon neugierig, was meine Schulkollegen dazu sagen, wenn sie nach der Schule in den Park kommen. Bis
dahin werde ich mich in die Dorfkonditorei setzen, gleich neben der Bachbrücke. Von dort hat man einen guten Ausblick,
was rundum geschieht.
Ich nehme an einem runden Tisch Platz, höre dem Glucksen der kleinen Wellen zu, die braun und grün mit
Schaumkronen über die Steine hüpfen und im Schatten der Brücke verschwinden.
Die Kellnerin kommt durch die dunkelgrün umrahmte Glastüre und sieht sich um. Ich winke ihr und möchte eine Limo
bestellen. Sie reagiert nicht. Beim zweiten Versuch rufe ich ihr zu. Sie dreht sich auf der Stelle um und verschwindet im
Café. Nachdem ich noch ein wenig gewartet habe, stehe ich auf, gehe zur Türe und rufe meine Bestellung laut hinein.
Linda, die Kellnerin und derzeitige Besitzerin der Konditorei schaut kurz auf und macht sich dann an der Theke zu
schaffen. Sie wischt Gläser sauber und stellt sie ins Regal hinter ihr. Dann dreht sie die Musik des Senders Ö3 lautstark
auf. Verunsichert stehe ich da, als ich von hinten einen Stoß erfahre und auf die Theke stürze. Dabei fällt ein Glas mit
Gummibärchen um und die Tierchen verteilen sich hüpfend auf dem Boden. Ich drücke mich in die Ecke und sehe die
dicke Emmi aus dem Fleischerladen gegenüber eben einen Barhocker erklimmen. Mein Blick wendet sich nach
draußen. Da rennt meine Mutter aus dem gegenüberliegenden Haus.
Die Kellnerin bückt sich, um die Gummibärlis mit dem Besen auf eine kleine Schaufel zu kehren und zu entsorgen.
„Na, was meinst du zu der Sache?“, höre ich die dicke Emmi, welche eingetreten ist und mich geschubst hatte, Linda,
die Kellnerin fragen.
„Wozu?“ wird ihr als Antwort rück erstattet.
„Nun zu der Geschichte mit dem Motz, seine Frau, die Finni, ist schon ganz mager vor Kränkung geworden und die Anni,
diese dumme Gans, bekommt nicht genug von dem Alten!“
„Ich kenne die Geschichte etwas anders“, meint gelassen die Kellnerin.
„Der Motz hat sich so lange um die Anni bemüht und ist ihr nachgelaufen, bis sie nachgegeben hat!“
„Und was ist mit dem Vickerl? Der war auch nicht mehr jung, als sie ihn geheiratet hat? Oder hat sie ihn am Ende nur
wegen des Besitzes und der Pferde genommen, die sie so liebt?”
Die Kellnerin zuckt mit den Achseln.
„Ja, woher soll ich das so genau wissen? Ich weiß auch nur, was so geredet wird. Darf ich dir einen Kaffee machen?“
Die dicke Emmi nickt und versinkt in tiefes Schweigen, trinkt ihre Tasse leer zahlt, rutscht vom Hocker und verschwindet
danach wieder dorthin, woher sie gekommen ist: hinter Bergen von rohem Fleisch und Würsten.
Ich nehme mir eine Limonade aus der Kiste hinter der Schank, öffne sie und trinke einen kräftigen Schluck. Niemand hat
etwas davon bemerkt. Erst, als ich die leere Flasche hinstelle, wundert sich Linda.
Betroffen schleiche ich aus dem Laden und begreife immer mehr, dass ich von meiner Umwelt nicht gesehen werde.
Meine Mutter hat also eine Affäre mit dem Motz! Meine Mutter, die aussieht wie ein Engel, mit ihren strahlend blauen
Augen, ihrem blonden Haarschopf und ihrer mädchenhaften Figur. Ich habe mir immer vorgestellt, meine Mutter gibt es
schon immer so und der Bildhauer, der die Kapelle mit dem Schutzengel am Ende der Schlossstraße gemacht hat, hat
meine Mutter als Modell vor sich gesehen. Vielleicht ist alles harmlos, diese Frauen verbraten nur eine Halbwahrheit und
es ist ganz anders.
Gedankenverloren spaziere ich durch den Park, gehe über die Brücke, die über den kleinen Teich führt, der immer mehr
zuwächst und gelange schließlich zum Kinderspielplatz mit dem Beach Volley Ball Platz. Dort ist der Treffpunkt der etwas
Größeren.
Es ist noch niemand da, obwohl auch die Hauptschüler bereits Schulende haben.
Deshalb setze ich mich auf eine Bank und warte.
Kurz darauf kommen Julian und seine jüngere Schwester Jasmin von der Straße zum Park herunter. Noch kann ich sie
nicht sprechen hören, aber ich sehe, dass Jasmin verheult ist. Ihr Gespräch wirkt aufgeregt, emotionell. Jetzt setzen sie
sich auf die Bank neben mich. Auf mein freundliches „Hallo, Leute!“, reagieren sie nicht.
„Also, jetzt erzähl mir, was hat Onkel Leschek, von dem du immer so begeistert warst, gemacht?“, bohrt Julian.
Jasmin heult nur noch mehr. „Wozu soll ich es dir denn nochmals erzählen, wenn du es mir nicht glaubst!“, stößt das
Mädchen dann hervor. Die Schultern beben. Unter der Nase hat sich Rotz gesammelt. Ihr Bruder drückt ihr ein
Papiertaschentuch in die Hand.
, Eigenartig’, denke ich. , Die tun alle so, als würden sie mich nicht sehen und ich erfahre die intimsten Geschichten.
Mehr und mehr begreife ich, dass mich die anderen tatsächlich nicht sehen können ‘.
Jasmin hat, wie schon öfters, gestern bei ihrem Onkel und Taufpaten im Nachbarort schlafen wollen. Der hat nämlich
einen Großbildfernseher und kann auch Programme aus Polen anschauen. Und gestern war eine Konzertübertragung.
Irgendetwas, auf das Teenies abfahren. Dieses Programm hatte Jasmin unbedingt sehen wollen. Damit hätte sie heute
ihre Schulkolleginnen beeindrucken können.
„Aber dann“, höre ich Jasmin weiter berichten und sie berichtet durch einen Vorhang der Tränen und durch einen Wall
des Schmerzes, dann haben mich beide geschlagen, damit sie mit mir Sachen machen können…“, die Stimme wird
immer leiser, der ganze Körper bebt, die Schultern sind hoch gezogen und der Kopf verschwindet dazwischen.
„Was für Sachen?“, höre ich den Bruder fragen.
„Einer hat mich auf dem Bett fest gehalten und der andere hat mir die Beine auseinander gedrückt, und dann hat sich
Onkel Leschek auf mich gelegt und…“.
„Was, er hat dich wirklich gefickt!“, schreit Julian jetzt auf, „So eine Sau!“, empört er sich.
Er steht mit seiner Schwester auf und ich höre ihn im Weggehen sagen: „Du, das müssen wir…“
Ich sitze betroffen allein auf der Bank.
Mein Herz krampft sich zusammen.
Ausgerechnet Jasmin musste das passieren! Diesem schüchternen, zarten, Geschöpf, vor dem ich vor Verehrung fast
vergehe. Natürlich lasse ich mir nichts anmerken. Ich drehe mich immer weg, damit sie nicht sehen kann, wenn meine
Ohren heiß und rot werden. Im letzten Sommer im Freibad bin ich in der Nähe des Bassins gelegen und habe immer an
ihren schlanken Beinen hoch geschaut, wenn sie vorbei ging. Und jetzt das!
Lange sitze ich noch im Park und denke nach. Soll ich die Sache dem Pfarrer erzählen? Oder dem Schuldirektor
Wildhas? Nein! Dem sicher nicht, der würde nur blöd herum reden, aber nichts tun. Vielleicht hat mein Klassenvorstand
demnächst Zeit. Aber wie soll ich erklären, dass ich davon weiß?
Weil ich hungrig bin, habe ich vor, daheim, in der Küche vorbei zu schauen.
Ich verlasse den Park und gelange zur Hauptstraße, die durch den Ort hindurch und weiter hinein ins Gebirge führt. Auf
der anderen Straßenseite liegt das Haus meines Vaters. Es ist ein graues, hohes Gebäude, etwas verwahrlost, weil der
Umbau viel Geld kostet. Daneben steht das Wirtschaftsgebäude mit den Ställen. Meine Mutter liebt die Pferde. Untertags
stehen sie auf der Koppel. Am Abend müssen sie in den Stall. Über dem Stall ist der Heuboden.
Die Stiegen in den ersten Stock springe ich mit großen Schritten hinauf, öffne die Küchentür und stehe vor meiner
Mutter. Verheult steht sie da, die Haare zerzaust, dreht sie sich zum Fenster mit einer Zigarette in der Hand.
Gerne wüsste ich, was an den Worten, die ich gehört habe, stimmt. Doch es schnürt mir die Kehle zu. Meine Mutter zu
fragen, steht mir nicht zu. Außerdem bezweifle ich, dass sie meine Worte versteht.
Blitzschnell greife ich in die Brotdose, hole Brötchen hervor. Aus dem Apfelkorb schnappe ich zwei Äpfel und stecke sie
in die Hosentasche. Da stolpert fluchend mein Vater zum Tor herein.
Er stürmt die Treppe hinauf, ich höre ihn schreien: „Anna, Anna, Daniel ist weg! Verschwunden!“
Vorsichtig schleiche ich die Stufen nochmals hinauf.
„Ja verdammt noch einmal! Ist dir das völlig egal? Hast du überhaupt mitbekommen, was ich gesagt habe?“, brüllt mein
Vater durch das Haus, in dem überall volle Wäschekörbe stehen.
Meine Mutter sieht ihn mit tränennassen Augen an.
„Was? Du hast es also doch schon gehört, dass unser Bub verschwunden ist“, murmelt mein Vater ziemlich verdutzt und
nimmt sie in die Arme. „Der muss doch wieder auftauchen, er war nur in der Schule. Sicher ist ihm wieder irgendein
Blödsinn eingefallen!“, tröstet er sie.
Ich schlendere die Dorfstraße entlang. Vor der kleinen Kapelle unter dem Felsen salutiere ich. Ich blicke kurz rundum. Es
ist niemand da, der mich sehen könnte.
Eigentlich ist es schade, finde ich. Fesch und schneidig fühle ich mich in der Uniform, bin damit ein richtiger und ganzer
Kerl! Ein paar Schritte weiter, dann bin ich beim Schwetz, unserem Wirt. Das Gasthaus liegt gegenüber vom Bahnhof.
„Dschungelexpress“ bezeichnen Lästermäuler die Bahn die von draußen, von der Stadt zu uns ins Tal herein fährt. Es
stimmt, dass nicht mehr viele Leute die Bahn benutzen. Sie fährt auch nur mehr vier Mal am Tag. Die meisten Leute
haben ein Auto und fahren mit diesem in die nächste Stadt, wenn größere Besorgungen zu machen sind.
Den Türflügel des Gasthauses stoße ich auf, begebe mich nach links in den Gastraum. Mit großen Augen starrt Alfons
Schwetz, der Wirt, auf den noch immer schwingenden Türflügel.
Vermutlich ist seine Erklärung dafür, dass er heute bereits zu viel Alkohol genossen hat. Kurz darauf verschwindet er
und seine Frau löst ihn ab.
Heute erlaube ich mir etwas, wozu ich noch nie die Gelegenheit hatte. Ich gehe im Raum herum und betrachte die alten
Fotografien, die dunkel gerahmt an den Wänden hängen. Sonst hat mich immer jemand gerufen und mir einen Auftrag
erteilt, wenn ich die Fotos genau betrachten wollte. Aber heute ist alles anders.
Auf das Foto mit dem Schwetz-Gasthof, geschmückt mit einer Hakenkreuzfahne, fällt mein Blick zuerst. Das nächste
gerahmte Foto zeigt einen Mann vor dem Bahnhof in Uniform und mit Stahlhelm und ausgestrecktem, rechtem Arm. Das
dritte Bild zeigt Knaben auf der Sonnkogelwiese, vermutlich mit einem Ausbildner. „Schöne Zeiten“, steht darunter
gekritzelt. Unwillkürlich greife ich erst jetzt in die Brusttasche der Uniform und ziehe unerwartet einen Anhänger heraus.
Es ist ein blau emailliertes Kreuz mit einem goldenen Strahlenkranz, in dem sich ein Kreis mit einer Inschrift befindet. Ich
drehe das Ding in meiner Hand und lese: „Der deutschen Mutter“. Innerhalb der Inschrift befindet sich das
rechtsdrehende Sonnenrad, bei uns Hakenkreuz genannt. Da fällt mir ein: Droben, auf dem Weg zur Burg ist dieses
Hakenkreuz auch an einen Felsen gemalt, aber mit weißer Farbe.
, Geil‘, denke ich, was ich alles entdecke!
Bösenstein
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